Aufschieben in der Promotion mit Kind: Interview mit Annette Bauer

An dieser Stelle darf ich Euch ein Interview präsentieren, das ich zum Thema Aufschieben in der Promotion mit Kind geführt habe. Gesprochen habe ich mit Annette Bauer, Autorin des Buches „Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird„. Es ist ein reichhaltiges Gespräch mit vielen Impulsen für Euch entstanden. Annette Bauer ist systemische Emotions-Coach und Autorin in Köln. Sie arbeitet mit besonders begabten Menschen und ist überzeugt: Jedes „Problem“ steht in Verbindung zu einer Emotion. Dort verbirgt sich oft der Schlüssel zur Lösung. Mehr über Sie erfahrt Ihr auf Ihrer Website: www.annette-bauer.com. Und hier geht es zu Ihrem Buch über Vielbegabte: https://www.junfermann.de/titel/vielbegabt-tausendsassa-multitalent/370

Kinder sind die beste Ablenkung von der Dissertation – oder?

Aufschieben ist für viele promovierende Eltern ein Thema. Kinder scheinen einfach immer ein guter Grund zu sein, um gerade nicht an der Dissertation zu arbeiten. Was rätst Du ihnen?

Zu allererst: Ja, das ist auch so. Kinder sind einfach ein guter Grund. Mir ist immer wichtig klarzustellen: Es gibt ein Aufschieben, was total normal ist, und es gibt ein Aufschieben, das für uns negative Folgen hat. Sich bewusst für etwas zu entscheiden und dafür etwas anderes gerade nicht zu tun, bedeutet ja erst einmal, eine Priorität zu setzen. Das würde ich niemals als Aufschieben bezeichnen. Es kann einfach sein, dass ich mich jetzt gerade für das Kind entscheiden muss und darum Nichts für die Promotion mache. Weil ich aus mir heraus entscheide, dass das jetzt die höhere Priorität hat. Da ist es dann spannend bei mir zu schauen: Warum empfinde ich das eigentlich gerade als Mangel, also als etwas Negatives und gebe mir selbst das Urteil „Ich schiebe auf“? Mit Notizen zu den bewussten Entscheidungen kann ich mir vielleicht helfen, nicht in dieses negative Denken zu kommen. Wie eine Art Vertrag mit sich selbst: „Ich entscheide mich heute für qualitative Zeit mit meinem Kind und werde am X.X. (mit Unterstützung von NN) qualitative Zeit mit meiner Promotionsarbeit verbringen“.

Ist das eigentlich Aufschieben?

Die Entscheidung, jetzt nicht an der Dissertation zu schreiben, ist vielleicht nicht immer freiwillig, wenn es gerade um ein Bedürfnis des Kindes geht. Wenn wir uns davon gestört fühlen, kann das die negative Bewertung befeuern. Wie gehe ich damit um?

Ja, wir sind da sehr schnell im Bewerten. Das haben wir gut geübt in unserer Gesellschaft. Ein Gedanke in der Kinderphase, den wir vielleicht schwer zulassen können ist: „Jetzt stört mich das Kind schon wieder. Ich kann jetzt meins nicht ­machen.“ Das kennen wir Eltern alle sehr genau. Und wenn man ehrlich mit sich ist, hadert man mit diesem Moment, denn er holt negative Gefühle hervor. Trotzdem ist das nicht Aufschieben. Das ist gerade einfach eine Notwendigkeit. Da ist es gut für sich zu klären: Was ist denn im Moment realistisch? Was ist gerade dran? Sich diese Frage in der Phase mit Kind zu stellen, kann entlasten.

Realistische Pläne können entlasten

Ich glaube, dass es in der Promotion mit Kind noch viel weniger Aufschieben gibt als angenommen. Die Promotion ist ein Ziel, das man sich selbst steckt und das Druck ausübt. Dann ist die spannende Frage: Wie gehe ich mit diesem Ziel um? Wie sieht mein Plan aus? Ist dieses Ziel unter den gegebenen Umständen machbar? Das ist bei Leuten mit einem wirklichen Aufschiebethema relevant. Und wer solche Probleme hat, braucht Geduld! Bei einer Arbeitsstörung hilft Übung und die braucht Zeit. Ein Beispiel: Ich bin alleinerziehend mit Kleinkind und möchte in 3 Monaten die Dissertation einreichen. Ist das zu schaffen? Wie viel Zeit brauche ich? Habe ich ein gutes Gefühl dafür, was ich in einer Stunde schaffen kann? Oder arbeite ich besser in Zeitfenstern von 3 Stunden? Wenn man sich häufiger sagt „Dann mache ich lieber nichts, ich werde ja eh wieder nichts schaffen“ – ein häufiges Bild im Kopf eines Aufschiebers – dann lohnt es wirklich, genau hinzuschauen und sich z.B. die folgenden Fragen zu stellen:

  • Wie ist mein Arbeitsstil?
  • Was ist das optimale Zeitfenster für mich, in dem ich arbeiten kann…
    • mit Blick auf meine innere Struktur?
    • mit Blick auf die äußeren Gegebenheiten?

Solche Tipps gebe ich auch in meinem Buch. Es gibt viel Forschung zum Thema „Akademisches Aufschieben“, etwa an der Uni Münster. Bei Menschen, die unter einer Arbeitsstörung leiden, setzt sich das im späteren Leben auch fort. Dafür gibt es gute Beratungsansätze, z.B. sich passende Pläne zu machen, ins Reflektieren zu gehen, mit einem neutralen Gegenüber zu sprechen und sich eigene Arbeitsphasen rückblickend anzuschauen. Wissenschaftliches Arbeiten ist ein kreativer Prozess – manche können das morgens gut, manche abends. Je besser ich also meine persönliche Arbeitsweise kenne, desto leichter fällt es mir, ins Tun zu kommen. Und wer solche Probleme hat, braucht Geduld! Bei einer Arbeitsstörung hilft Übung und die braucht Zeit.

Mehr Zeit ist nicht automatisch besser

Das heißt, dass es Promovierenden, die theoretisch mehr Zeit zur Verfügung haben als diejenigen mit Kind*ern, gar nicht unbedingt besser geht, oder?

Ja, denn wenn der Arbeitstag lang ist, können auch die typischen Ablenkungsmechanismen besonders gut greifen, z.B.youtube-Videos gucken. Solche Ablenkungen funktionieren bei akademischen Aufschieber*innen besonders gut.

Wenn ich abgecheckt habe, ob mein Ziel unter den gegebenen Umständen machbar ist und ich weiß, zu welcher Tageszeit ich produktiv und konzentriert arbeite und mich einlassen kann, dann kommen die Rahmenbedingungen (z.B. mein Arbeitsplatz) und Hilfetools ins Spiel. Die kann ich mir entsprechend der Fallen, die ich identifiziert habe, einrichten, etwa:

  • einen Wecker, der mich regelmäßig an die Frage erinnert, ob ich beim Thema bin
  • eine gute Pausenkultur, in die ich eine erlaubte Ablenkung einbaue
  • Apps, die unterbinden, dass ich mich auf bestimmte Homepages einwähle

Promovierende sitzen ja viel am Rechner, da kann es hilfreich sein, mit solchen kleinen Kniffen zu arbeiten.

Emotionen können das Anfangen verhindern

Und was rätst du einer Person, die sich ihre Zeitfenster und Rahmenbedingungen zwar geschaffen hat, sich die Aufgabe aber gedanklich unangenehm macht? Für die also ein Gedanke wie „Es ist einfach zu schwer, ich schaffe es nicht“ ein Dauerbegleiter ist?

Dann finde ich es wichtig herauszufinden: Warum mache ich das denn? Warum ist es so schwer? Das bekommt man oft nicht alleine auseinanderdividiert. Da braucht es dann eine gute Gesprächspartnerin. Und da kommst du ja auch mit deiner Arbeit an der Seite der Promovierenden ins Spiel. Mit dir können sie herausfinden:

  • Was macht das Promovieren für mich so schwer?
  • Was genau ist daran so mühsam?
  • Was bedeutet es denn, dass etwas mühsam ist?

Eine Essenz meiner Arbeit ist: Wenn Alltagsaufschieben vorliegt, gibt es häufig eine emotionale Kopplung zu einem anderen Ereignis. Wir wissen es alle: Emotionen schießen dazwischen. Wir können Pläne machen und optimale Bedingungen schaffen, doch wenn Leute mit akademischer Prokrastination trotz aller Tricks nicht aus dem Senf kommen, dann liegt eine Blockade auf einer ganz anderen Ebene vor. Dann geht es darum, diese Verbindung zu finden.

„Aufschieben ist etwas, für das ich mich schäme.“

Auch das Aufschieben selbst ist ja häufig emotionsbesetzt. Es geht oft mit Scham und schlechtem Gewissen einher. Warum ist das so?

Das ist ein Teufelskreis, der häufig eintritt. Scham gehört eigentlich nicht zu unserem Gefühlsspektrum, sie entsteht erst im sozialen Miteinander. Scham ist eine Reaktion auf das, was wir im Außen erleben und gleichzeitig eine der heftigsten Bremsen, die wir haben. Wir schämen uns auch für Gefühle, die wir haben. Wenn ich zugeben muss, dass ich ein Problem habe, dass ich mich nicht organisiert bekomme, um einen bestimmten Arbeitsschritt zu machen, etwa ein Kapitel meiner Dissertation abzuschicken – wenn ich merke, dass ich da einen Mangel habe, dann ist das unangenehm. Damit rauszugehen, löst unglaublich viel Scham aus. Und wir haben nie gelernt, damit umzugehen. Wir lernen von klein auf: „Oh Gott, ich habe etwas gemacht, was die anderen in eine blöde Situation bringt.“ Es gibt keine Lernerfahrung, die besagt: „Mensch, ist doch gar nicht so schlimm.“ Wir wissen also nicht, wie das geht.

Schritt für Schritt aus der Scham

Was kann ich denn tun, wenn ich mich so für mein Aufschieben schäme?

Scham löst sich in mehreren kleinen Schritten, als würde ich eine Treppe hinaufgehen. Der erste Schritt ist zu sagen: „Ich empfinde Scham“. Also mir selbst einzugestehen, dass ich mich gerade als minderwertig oder fehlerhaft empfinde.

Der nächste Schritt ein Realitätscheck: Ist das jetzt gerade wirklich so dramatisch wie es sich anfühlt? Wenn ich meinem Betreuer oder meiner Betreuerin sage, dass ich den Teil noch nicht fertig habe, reißen sie mir den Kopf ab oder sagen sie: „Es wird langsam Zeit, wir gucken nach einem neuen Termin“? Davon geht ja die Welt noch nicht unter.

Wenn ich es hinbekomme, mich selbst in der Realität meines Problems zu überprüfen und zu mir selber zu stehen, dann ist es hilfreich, es jemandem zu erzählen. Um den emotionalen Kreislauf zu durchbrechen, kann ich z.B. dir als Coach davon erzählen: „Frau Beckmann, ich hab‘ das schon wieder nicht hingekriegt und ich fühle mich dadurch echt schlecht.“ dann ist es ganz wichtig, dass wir von außen gespiegelt bekommen „Du bist mehr als dieses momentane Unvermögen.“ Da ist Ressourcenarbeit ganz wichtig.

Niemand muss etwas alleine schaffen

Das heißt also, dass der Schritt, mit uns als Coaches in Kontakt zu treten, schon richtig anerkennenswert ist, oder? Was wäre denn dagegen das Schlimmste, was ich tun kann?

Auf jeden Fall. Wenn sich Promovierende damit öffnen, dann haben sie schon etwas ganz Großes geleistet. Das kann man als Coach gar nicht genug würdigen. Denn da ist jemand nach außen gegangen und hat sich getraut.

Das Schlimmste, was ich tun kann ist schweigen, mich verkriechen und im Grunde damit vorprogrammieren, dass der nächste Tag genauso läuft. Also den Teufelskreis aufrechterhalten und mir sagen: „Ich schaffe das schon alleine.“ Ein ganz wichtiger Satz von mir in allen meinen Coachings ist „Niemand muss etwas alleine schaffen.“ Es kann wirklich hilfreich sein, begleitet an diesen Dingen zu arbeiten und sich Unterstützung ins Boot zu holen. Das kann etwas Fachliches sein, z.B. ein Trainingsprogramm wie das von den Münsteranern https://www.uni-muenster.de/Prokrastinationsambulanz/oder auch ein tägliches Gespräch mit dem Partner/der Partnerin, z.B. zu der Frage: Welche eine Sache hat heute gut funktioniert?

Aufschieben können ist eine Gabe

Wie definierst du den Unterschied zwischen Prokrastination und Aufschieben?

Die Unterscheidung ist sehr wichtig, denn Prokrastination ist ein klinischer Begriff. Wenn man davon spricht, hat das also einen Krankheitswert.

Das Wort „Aufschieberitis“ ist aus meiner Sicht eine gesellschaftliche Verniedlichung, die das Ganze weniger schlimm erscheinen lässt. Wenn jemand es dadurch klein machen möchte und sich mit dem „großen Thema“ nicht auseinandersetzen will, dann steckt dahinter ja ein ganz anderer Mechanismus. Da wird ein ernsthaftes Problem klein gemacht und zugleich ein natürliches Verhalten in den Dunstkreis einer ernsten Sache gerückt.

Denn: Aufschieben können ist eine Gabe. Das gehört in das Kapitel: Ich kann Schubladen bilden, weil mir das hilft, Prioritäten zu setzen. Wenn ich sage: Die Steuererklärung ist heute fällig und das Wetter ist super. Ich gehe in den Garten, solange die Sonne noch scheint und setze mich heute Nachmittag daran. Dann ist das eine bewusste Entscheidung, ein bewusstes Aufschieben, und das ist total gesund. Wenn ich aber die Steuererklärung aufschiebe und den Garten als Ausrede nutze, dann habe ich ein ernstes Problem mit der Steuererklärung. Dann muss ich mich fragen, was damit verknüpft ist, dass ich sie nicht angehen will. Oder anders: Wenn ich es nicht hinbekomme, mich nach dem Fensterputzen auch wirklich an die Dissertation zu setzen, dann habe ich ein Prokrastinationsproblem. Dann muss ich genau hingucken, warum das so ist und den Hintergrund klären.

Deine Chance zur persönlichen Entwicklung

Wenn ich es schaffe, genau hinzugucken, dann trifft das zu, was ich aus meiner eigenen Promotionszeit mitgenommen habe: Ich entwickle mich persönlich ein großes Stück weiter. Ich lerne viel darüber, wie ich gut arbeite, was mich motiviert und wie ich eine gute Struktur etabliere. Ich lerne meinen Arbeitsstil kennen und weiß anschließend, wie ich mir zukünftige Arbeitsprozesse für mich passend gestalten kann.

Liebe Leserinnen und Leser, wenn Euch irgendetwas in dieser Richtung bedrückt und Ihr wieder mehr Leichtigkeit in Eure Promotion bringen wollt, dann meldet Euch bei mir. Darüber zu sprechen ist der erste wichtige Schritt, danach wird alles leichter. Wie Annette so schön sagt: Man muss nichts alleine schaffen! Auch nicht Du!